Abakanowicz Magdalena

Raum des stillen Seins

Im Rahmen der Ausstellung „Blickachsen 8“ besuchte ich im September 2011 das Gelände der Frankfurter Universität. Zwischen dem gigantischen Verwaltungsgebäude der ehemaligen IG Farben und deren Kasino hatte die Künstlerin Magdalena Abakanowicz „Zehn sitzende Figuren“ aufgestellt. Der Platz und das Gebäude waren für mich markante Blickachsen der deutschen Geschichte. Im Gebäude, noch im Bauhausstil von 1928 – 1931 errichtet, residierten die IG Farben, jenes Unternehmen das nach 1933 die engste Verbindung zwischen Kapital und Nationalsozialismus darstellte. Häftlinge des Vernichtungslagers Auschwitz mussten für die IG Farben, die im KZ ein firmeneigenes Werk betrieb, Zwangsarbeit leisten.
Nach der Befreiung von Nazideutschland nutzten es die Amerikaner bis 1994 als Hauptquartier und Verwaltungszentrale für die in Deutschland stationierte US-Army. Ein Bombenattentat der RAF hatte 1972 einen amerikanischen Oberstleutnant getötet und 30 Personen verletzt. Nach detailgetreuer Restaurierung konnten im Jahre 2000 die Studierenden in eines der attraktivsten deutschen Universitäten einziehen. Dass die Einrichtung in die Johann Wolfgang Goethe Universität getauft wurde, erinnert an den Spagat deutscher Vergangenheit zwischen Dichter und Denker, Richter und Henker. Ein erregender Teil deutscher Geschichte, welche von Finsternis, Gewalt, Wandel und Bewältigung in Freiheit erzählt.
Zentral auf der Mittelachse zwischen dem Hauptgebäude der IG- Farben und dem Casino-Gebäude, in dem heute die Mensa der Universität untergebracht ist, sitzt seit 1931 die Figur von Fritz Klimsch „Am Wasser“ in anmutiger Haltung. Mit beiden Händen stützt sie sich hinter ihrem Rücken ab, sie scheint über ihre Schulter blickend nicht nur das ihr zu Füßen liegende Wasserbassin zu betrachten, sondern auch einen Blick auf die zehn überlebensgroßen Bronzefiguren der polnischen Künstlerin Magdalena Abakanowicz zu werfen.

IMG_3094_WFrankfurt_blickachsen_005_WWenn auch Klimsch (1870-1960) von Körperdarstellungen der Antike beeinflusst war, so muss man erwähnen, dass er zu einem Günstling des NS-Regimes zählte und Hitlerbüsten fertigte. In der Monographie, welche sein Sohn 1938 veröffentlichte, wurde sehr wohl auf eine regimenahe Haltung des Künstlers angespielt. Klimsch zählte zu den zwölf wichtigsten bildenden Künstlern des Deutschen Reiches.[1] Nicht untypisch für die Nachkriegsgeschichte erhielt er 1959 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
Drei Meter groß standen die die zehn Torsi aus Bronze vor mir in dichter Reihung im Halbkreis vor dem Gebäude der ehemaligen IG Farben, ihnen fehlten Kopf und Arme. Ihre Körper wirkten wie verdreht zusammengesetzt, während Füße und Beine zum Betrachter sahen, blickte der Oberkörper nach hinten, vergleichbar einem Synonym deutscher Befindlichkeit beim Betrachten der Vergangenheit. Die Körperformen wirkten von weitem alle gleich, schritt man jedoch den Halbkreis ab, erkannte man, dass jeder Torso individuell ausgearbeitet, oder „gezeichnet“ durch die Textilstrukturen war, die von ab- und eingedrückter Sackleinwand stammten.

Aba_Frankfurt_001_WDie polnische Künstlerin fertigt seit den 60er Jahren Skulpturen in raumgreifender Monumentalität, ihre Körper und -fragmente sind abstrahiert und zeigen große existenzielle Tiefe. 1930 in Polen geboren und auf dem Land aufgewachsen, wurde sie von polnischer Textilkunst beeinflusst und auch geprägt durch den totalitären Kommunismus.

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„TEN SEATED FIGURES“, 2011, Eisenguss, Installation von 10 Unikaten. Je 300 x 160 x 96 cm. Photos September 2011.

Die Figuren der Künstlerin waren politisch beziehungsreich aufgestellt. Geschundene Torsi von Menschen des 20. Jahrhunderts, die sich groß und würdevoll behaupteten. Frontal standen sie zu dem Gebäude der IG Farben, im Rücken deren Kasino und auf sie blickend der klassisch anmutig schöne, sitzende weibliche Akt von Klimsch. Ein kompaktes Ensemble deutscher Befindlichkeit.

„KATHARSIS“, so nennt Magdalena Abakanowicz 33 Bronzefiguren, welche sie 1985 für den Garten von Giuliano Gori in Celle (4) bei Prato in Norditalien schuf, die ich im Juli 2005 besuchen konnte. Die feierliche Formation war ihre erste Open – Air Installation, Celle war ihr Atelier. Die Figuren sind ca. 270 cm hoch und im Detail ebenso unterschiedlich.

Celle 070_WAm Anfang ihrer künstlerischen Laufbahn standen Figurenzyklen, die sie aus Gipsabdrücken von sitzenden oder stehenden Menschen abnahm. Die Schalen der Front oder Rückseiten hatte sie mit flüssigem Wachs ausgegossen in dem Sackleinen gesättigt wurde. Diese Hälften, kopfloser und anonymer Körper, Schalenformen eines Menschen, stellte sie in großen Gruppen auf.
Ihre Formen sind stark zu Chiffren reduziert worden, doch keine Figur gleicht der anderen. Auch in der Arbeit mit Bronze veränderte sie noch die Gussformen durch eine plastische Masse, die sie mit den Fingern bearbeitete. Kunst, sagt Abakanowicz, entsteht aus Gefühlen: „Es fängt im Körper an. (…) Mit den Händen forme ich es. Durch meine Hände übertrage ich ihm meine Kraft. Meine Hände lassen den Gedanken zur Form werden, sie übermitteln dabei etwas, das sich meinem Bewusstsein entzieht.“[2]

Aba_C_001_WAbakanowicz lässt sich ganz auf den Charakter der Landschaft in Celle ein. Die Stelen, die wie Schalenformen zur Landschaft hin geöffnet sind, nehmen den Olivenhain auf und gestalten die Wiese zu einer Kultstätte. „Das Äußere und das Innere sind ihr gleich wichtig, wodurch auch die Öffnung der Skulpturen zur Landschaft hin thematisiert wird.“[3] Eine dichte und rituelle Konstellation, die mich bewegte.
Bei meinem Besuch mit dem Freundeskreis des Kunsthistorischen Instituts der Universität Erlangen im Oktober 2012 in Hiroshima konnte ich eine vergleichbare katharsische Formation photographieren.

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“SPACE OF BECALMED BEINGS”. 1992/1993, 40 Figuren aus Bronze, aus dem Zyklus „BACKS“, ca.90 x 63 x 80 cm im City Museum of Contemporary Art, Hiroshima. Photos Oktober 2012.

Abakanowicz lässt die Stäbe, die der Bronzeguss technisch bedingt, wie einen Stachel im Körper stehen. Hohle Formen mit gebeugtem Rücken erinnerten mich an ein Photo, dass ich am 6. August 1983 auf der großen Gedenkfeier zum Jahrestag des Atombomben-abwurfes aufnahm und dass die Trauernden Menschen zeigt. Genau auf die Minute als die Bombe 1945 fiel, ertönte ein Glockenschlag und tausende von Menschen erzeugten eine beklemmende Stille, mein Rücken beugte sich und mein Kopf senkte sich und bildete einen Raum des stillen Seins.

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Photo 6. August 1983

Aba_H_002_WDie Kunstwerke und ihre Präsentationen ranken sich um dunkle Orten der Geschichte, verweisen auf die Läuterung der Seele von ihren Erregungszuständen und spiegeln den „genius loci“ der Plätze mit seiner Präsenz des Numinosen, mit Reflektion von Geschichte, Architektur und Landschaft.

Text und Photo H.E.Barfus, genannt Heinrich Paul

[1] Vgl. Sander Ferdinand: Fritz Klimsch, „Am Wasser“, URL: www.uni-frankfurt.de/39021852/klimsch-am-wasser
[2]
Irma Schlagheck. Das Innere ist genauso wichtig wie die Hülle. Zeitschrift Art. Nr. 6 1989. Hamburg, S. 78 -87, hier S. 86.
[3] Angela Ziesche. Magdalena Abakanowicz. Künstler Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. München 1994, S.7.
(4) Die Aufnahmen aus der Sammlung Gori in Celle dienen ausschließlich der privaten Nutzung, somit ist keine Veräußerung möglich.