Flutsaum-Masken

Die Masken von Marlene Paul wurden wie schnelle Skizzen, spontan und rasch an einem Vormittag modelliert. Die in ihnen eingarbeiteten Fundstücke wurden am Flutsaum gesammelt und füllten unser Domiziel. Leere Schneckenhäuser und Muscheln sind nicht nur Zufluchtsort für Einsiedlerkrebse, sondern auch für Fantasien und Träume. Die Masken, geformt aus einer Modelliermasse, gehen mit den vom Meer angespülten Fundstücken eine Verbindung ein. So sind auf unserer Insel Flutsaum-Gesichter entstanden, die dem Betrachter Emotionen spiegeln können.

                          am……….Flutsaum…………entlang Maskent_endeDie Fundstücke wurden, wie gefunden – wie von der Natur bearbeitet – in das weiche Material eingearbeitet. Das Einmodellieren in ein Gesicht lädt die Fundstücke auf, zu ihrer ursprünglichen Bedeutung erhalten sie eine mitschwingende, melancholische Aura, einen Arcimboldo-Effekt. Es sind Masken, die von innen heraus kunstvoll „aussickern“, vergleichbar dem Entstehen einer Schale aus einer weichen Molluske. Maskenschalen – Gefühle des Flutsaums, sie beginnen im Haus zu trocknen.

Vier Masken möchte ich beschreiben:
„Die Wütende“    „Die Schläferin“…     „Die Träumerin“… „Die Geschreckte“

Als Erste wurde die „Wütende“ geformt, ausgebeult, geglättet und mit Fundstücken bestückt.
M_Masken_005 KopieM_Masken_001 Kopie
Ein Gitter verdeckt ihre leere Augenhöhle. Die großen Nasenlöcher, an denen man noch den modellierenden Daumen erkennt, scheinen mächtig die Luft einzuziehen, während das eine verbliebene Auge den Betrachter in der einen Aufnahme zugespitzt und aggressiv aus der tiefen Augenhöhle anstarrt, wirkt es in der schattenreichen Aufnahme eher traurig. Den Mund formt eine quer liegende, angebrochene Kiemenschnecke, die wie eine kleine Trompete aussieht. Man gewinnt den Eindruck als wolle sich Wut durch die Kiemenwindungen herausdrehen, sich Luft machen.

Als zweite Flutsaummaske entstand die „Schläferin“.

Sie trägt als Mund einen etwas verblichenen, grünlichen, kräftigen Seemannsknoten, der besonders fest verschlossen scheint und an den Rändern ausgefranst ist.
M_Masken_010 KopieM_Masken_020 Kopie_1M_Masken_008 Kopie
Verschlafen liegt sie da, das Gesicht überdeckt mit einer gebleichten Strandtextilie, die wie ein geknüpftes, geflochtenes Haar im Rasterlook aussieht. Ganz vorsichtig schiebe ich die Haare beiseite, der schlafende Eindruck verwandelt sich durch die schrägen, aufgerissenen, leeren Augen. Sie hat zwei Gesichter, vielleicht müsste sie auch die Starre, oder die Erstarrte heißen.

 Danach formte sich die „Träumerin“ mit ihrer ausgeprägten und stark ausgeformten Stirnschale.

M_Masken_006 KopieDas linke Auge markiert die Außenseite einer aufgeklappten Austernschale. Über die Auster kann man bei Leonardo da Vinci eine Fabel lesen: sie „öffnet sich gänzlich bei Vollmond, und die Krabbe sieht dies und wirft ihr ein Stück Stein oder Reisig zwischen die Schalen, um zu verhindern, dass sie sich wieder schließt. Und so dient sie ihr zur Nahrung. Und Leonardo fügt zu dieser Fabel eine Moral: So liefert sich der Mund, der sein Geheimnis sagt, auf Gnade und Ungnade dem indiskreten Hörer aus.“[1] Das linke Auge ist eine Konk, deren Form man schwer erkennen kann, da ihre Oberfläche von Seepocken übersäht ist, die sich wie kleine Kristallblätterblüten zu öffnen beginnen. Darüber starke Einkerbungen als Augenbraue. Den Mund formt eine ebenfalls quer liegende Konk, deren innerste Windungen zu sehen sind, die wie das Zünglein einer Schlange heraustreten. Erzählt sie uns bald ihren Traum? Sie ist voller Traumpoesie, die unter der stark modellierten Stirn pulsiert.

Eine andere modellierte Maske war die „Geschreckte“ die mit zwei Konkaugen,M_Masken_011 Kopiedie – so habe ich den Eindruck – unentwegt die Blickrichtung wechseln. Die beiden Augen blicken völlig schräg in alle Richtungen, nur nie zum Betrachter. Sie ist die einzige Maske, die mich nicht ansieht. Verstärkt wird dies durch den sinnlich wirkenden, aber verschobenen, verschlossenen Mund und durch die beiden einmodellierten Stricke. Gebleicht im Flutsaum, komplementär in der Farbe und an ihren Enden sich auflösend, verstricken sie sich verstörend miteinander über dem Gesicht. Die Stirn wurde stark ausgeformt, als häuften sich dort die Gedanken.

Für die Flutsaummasken wurden Stricke, Seile, Netzteile und Seilknoten verwendet. Eliade hat hierüber Material von Ethnologen und Religionshistorikern zusammengetragen und spricht von der „Magie des Knoten“. Er verweist auf alte Bräuche die „den Knoten und Banden eine Funktion der Heilung, der Verteidigung gegenüber Dämonen oder der Sicherung der magischen Lebenskraft zuschreiben.“[2] In mehreren Sprachfamilien dienen das „Binden“ benennende Wörter auch dem Begriff des Verzauberns.[3] Die Bilder des Knotens und das Binden der Schnur beschreibt Eliade auch als Befreiung aus Illusionen, nämlich den Schleier der Unwirklichkeit zu zerreißen, oder die Knoten des Daseins aufzulösen und den labyrinthischen Knoten von Leben und Tod zu „lösen“, was er als eine philosophische und metaphysische Initiation begreift. Der Lebensfaden ist Symbol des menschlichen Schicksals. Die Flutsaumgesichter rufen auch mittelalterliche Maskendarstellungen ins Gedächtnis, Wasserspeier und Fratzengesichter, die Dämonen und Geister vom Kirchenraum fernhalten sollten oder an die Blattmasken in der Architektur.

Die Flutsaum-Masken präsentieren eine verborgene Anwesenheit, zeigen Teile eines inneren Gesichtes, machen Sichtbar.
Die Strandherkunft ist bei allen Masken bildhaft spürbar und nicht nur wegen der eingefügten Muscheln und Schnecken, sondern auch durch die bewegenden Modellierungen, die wie der Sandboden des Strandes schwingen, der durch die Gezeiten wechselhaft geformt ist.

M_Masken_013 KopieM_Masken_014 KopieM_Masken_012 KopieM_Masken_035 Kopie
Die Wellenbewegungen des Flutsaums sind mit eingewoben. Sie ergeben mit den Fundstücken eine spielerische, „melancholische Akkumulation,“[4] ein Begriff den Werner Spies für die surrealistischen Nachwirkungen bei den Nouveaux Réalistes verwendet hat. Die Oberflächen der Masken, die sich stark mit den eingeformten Fundstücken plastisch ausformen, erinnern an Materialbilder der Dadaisten oder der Nouveaux Réalistes.
Es wurde spielerisch geschöpft und die Objektmagie aus dem natürlichen Abfallkorb des Meeres aufgespürt. Durch den Zufall, durch die Engstelle des Momentes, die bei spontaner Gestaltung entsteht, werden innere „Melodien“ psychisch aufgeladen. Für den Betrachter bieten sie einen neuen und ungewohnten Anblick, die Masken kann man als poetisches Objet trouvé des Flutsaumes bezeichnen. Sie kommunizieren emotional mit dem Betrachter und man spürt etwas vom „Hindurchtönen“ einer archaischen Symbolik verbunden mit einer speziellen individuellen Note, sie sind mit dem Herzen gedacht. Die Masken sind eine künstlerische Hülle, die die Möglichkeit gibt mit der Außenwelt über die Innenwelt zu sprechen, gleichzeitig gewährt sie als Maske Schutz und Distanz.

M_Masken_030 KopieM_Masken_017 KopieM_Masken_026 KopieM_Masken_031 Kopie

Im rohen Werkstattzustand, den ich fotografierte, haben die weißen Flutraumgesichter eine starke magische Ausstrahlung, bei dem sich das Licht der Nordsee reflektiert. Wolken und Meer verbinden sich, als würde Frigg, die Göttin der Wolken und des Himmels, die ihren Wohnsitz in der Halle des Meeres hat, ihnen ein leuchtendes Gesicht geben. Frigg, von der man sagt, dass sie weiß von der Menschen Schicksal und bei der ihr Gatte Ođin öfters Rat holt.

Masken: Marlene Paul
Photographie, Text: H. E. Barfus, genannt Heinrich Paul

[1] Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. Frankfurt/Main 2007, Seite 135.
[2] Mircea Eliade, Ewige Bilder und Sinnbilder. Frankfurt/Main 1998, S. 125.
[3] Ebd., S. 128.
[4] Werner Spies: Objektmagie und Wunderkammern. In: (Dergl. Hrsg): Die surrealistische Revolution. Einführung. Kat. Ausst. Düsseldorf 2002, S. 14-40, hier S.25.