Material Ton

TON ist einer der ältesten Werkstoffe der Menschheit und Tonvorkommen gibt es fast überall auf der Welt. Er ist sozusagen plastischer „Urstoff“, archaisches, amorphes, strukturloses Material mit geringem Widerstand, was der Regression und den Menschen entgegenkommt, „die innerlich weder sehen noch hören, aber ihre Hände haben die Fähigkeit, Inhalte des Unbewußten auszudrücken. Solche Patienten bedienen sich mit Vorteil plastischer Materialien.“[1] Edith Kramer betont weniger die regressionsfördernde Kraft des Tons, sondern sieht eher seine Integrationsfähigkeit. „Die berührbare Erdigkeit und seine anpassungsfähige kohäsive Qualität vermitteln ein Gefühl von Realität und Substanz. Deshalb sei Ton besonders geeignet für Menschen, die von einer Fragmentierung ihres Ich bedroht sind.“[2] Tonerde wird auch als Lehm bezeichnet, als der Stoff, aus dem in vielen Schöpfungsmythen der Mensch geformt wird. „Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase.“[3]

Bereits seit der Antike galt Materie/Ton aufgrund der überlieferten Denkfigur von Aristoteles als weiblich. Auch im abendländischen Denken wurden Form und Materie geschlechtsspezifisch imaginiert und ab dem 19. Jahrhundert erfuhr das Material eine starke Sexualisierung. Der deutsche Kunstkritiker Alfred Kuhn schreibt in seinem 1922 erschienenen Buch „Die neuere Plastik“: „Der einzige Stoff, der keinen Materialcharakter hat, der nicht von sich aus zu irgendwelcher Treue, Strenge, Disziplin zwingt, der einzige Stoff, der dirnengleich schlechterdings alles mit sich machen läßt, der den Begriff der Vergewaltigung gar nicht kennt, der jenen höchsten Akt menschlichen Glückempfindens hemmungs- und gefühllos immer wieder mit sich vollziehen läßt, ist der Ton oder, was für uns dasselbe ist, das Plastilin, das Wachs.“[4] Auch „während des Nationalsozialismus wurde Ton als „charakterlos“ abgelehnt“[5], Grund dafür war seine Weichheit und Bildsamkeit. Dagegen gibt es für den Künstler Alicia Penalba „nur einen einzigen Stoff, der meinen Wünschen vollkommen entspricht: das ist der Ton… Dem Ton eignet von vornherein keinerlei Schönheit oder Ausdruck. Er paßt sich voll und ganz meinen Versuchen an, er ist für mich der einzig wirklich plastische Stoff.“[6] Diese Beispiele zeigen sehr eindrucksvoll die Übertragungsqualitäten des Materials auf.

Ton bekommt man in verschiedenen Qualitäten: es gibt den sog. „fetten“ Ton – mit hohen Anteil von reinem Ton – und den „mageren“ Ton, mit mehr oder weniger Schamott (=gebrannter, zerkleinerter Ton). Zudem erhält man Ton in vielen Farben – die erdigen Farbtöne gehen vom kalkigen Weiß über Gelb, Rot, Braun bis Schwarz. Depressive Menschen, von denen viele gerne mit Ton arbeiten, „denn ihre Welt habe keine Farben “scheuen sich oft braunen Ton zu nehmen – sie greifen in den meisten Fällen lieber zu grauem Ton.

In den Ton, dem weichen, „fassbaren“ Material können die Impulse der Finger und Hände ohne weiteren Anspruch und mit geschlossenen Augen hineingegeben werden, denn „oft wissen die Hände ein Geheimnis zu enträtseln, an dem der Verstand sich vergebens mühte.“[7] Außerdem rückt dabei die Konzentration auf das Fühlen in den Vordergrund und das kritische Auge und der Leistungsanspruch treten zurück. Leistungsanspruch wird beim Tonen auch dadurch reduziert, dass vorgenommene Veränderungen am fertigen Werkstück nicht mehr sichtbar sind.

Ton passt sich voll und ganz jeder Bewegung an, nimmt sie kritiklos auf und antwortet reagierend. Demgemäß ruft eine Aktion stets eine Gegenbewegung hervor, denn Ton reagiert auf den Formenden. Tonerde erlaubt rasches Festhalten erster Ideen. Der große italienische Bildhauer Medardo Rosso (1858-1928) modellierte u. a. in Ton Momentaufnahmen von Menschen. Es ist der spontane Ausdruck – der Moment einer bestimmten Wahrnehmung – ein flüchtiger Seheindruck des alltäglichen Lebens, welche der Künstler einfangen wollte und dadurch, dass er sich auf eine Ansichtsseite seiner Plastik begrenzte, tritt die eingefangene Emotion in den Vordergrund – kommt es zur Betonung der psychologischen Komponente. Er gestaltete vibrierende Oberflächen, auf denen Licht und Schatten spielen können und vermied jede akademische Glätte und Normierung. Der Raum legt sich wie eine Haut um seine Skulpturen. Rosso: „Jeden Eindruck verdanken wir dem Licht, darunter verstehe ich nicht den Tag, der zum Fenster hereinströmt, sondern die verschiedenen Tonalitäten, die von unserer Seele absorbiert oder reflektiert werden. Das Geschaute wird durch die jeweilige Seelenverfassung determiniert.“

Beim Gestalten mit Ton muss sich nicht sofort auf ein endgültiges Produkt festgelegt werden, sondern es kann so lange experimentiert, mit Formen gespielt werden, bis eine dem inneren Bild entsprechende Figur entstanden ist. Beim „Ton schlagen“, „Ton werfen“   oder „Ton fallen lassen“ wird die Konzentration von der Außenwelt abgezogen und auf die Wahrnehmung der eigenen Person gelenkt: dadurch entsteht Offenheit für innere Bewegungen, welche sich in der erstarrten, materiellen Bewegung der Form wiederfinden. Ton gestattet – anders als bei dem Material Holz und Stein – nicht nur ein Wegnehmen, sondern auch ein Dazugeben.

Die Plastik wird im Gegensatz zur Skulptur aufgebaut und geformt. Der Begriff der Plastik kommt vom griechischen Stammwort „plássein“ und bedeutet „aus weicher Masse bilden, formen, gestalten.“[8] So wird im wörtlichen Sinne die Tonplastik aus dem Material heraus gebildet und geformt. Beim plastischen Arbeiten wird Raum ergriffen, es erscheint ein Körper im Raum und steht dem Schaffenden als Partner gegenüber. Plastik und Raum gehen dabei ein bestimmtes Verhältnis miteinander ein: Formen, die in sich geschlossen sind und die ihre Energie im Inneren sammeln, werden als Kernplastik bezeichnet. Raumplastiken dagegen sind Figuren, die sich dem Raum öffnen, ihn ergreifen oder ihn in sich eindringen lassen.

Die sinnliche Präsenz des Materials Erde, Lehm, Ton und wie es unter Umständen den Menschen erfassen kann, demonstrierte sehr anschaulich der japanische Künstler Nobuo Sekine, welcher der Mono-ha Bewegung[9] angehörte, in seiner Performance 1969 „Phasen des Nichts – 2,8 Tonnen Lehm“. Er lud einen Lastwagen voll Lehm in eine kleine, rechteckige Galerie mit weißen Wänden und grauen Fußboden, auf dem er den schwarzen, klebrigen Lehm verteilte. „Dann begann er den Lehm vorsichtig zu bearbeiten, indem er einen Klumpen mit dem daneben zusammendrückte.“ Der mit ihm befreundete und anwesende Künstler Lee Ufan[10] schilderte ausführlich das Drücken, Werfen, Glätten, Stapeln und wie Sekine die verschiedensten Formen aus dem Lehm entstehen ließ. „Durch die Berührung und Bearbeitung mit verschwitzten Händen fing der Lehm an zu glänzen und bekam einen sehr lebendigen Ausdruck. Er schien fast zu atmen. Außer Sekines gelegentlichen Seufzen und dem klatschenden Geräusch seiner Hände auf dem Lehm war kein Ton zu hören (…) und man konnte ringsherum spüren, wie sich geheimnisvoll eine Konzentration aufbaute. Von diesem Punkt an stellte sich eine Art Regelmäßigkeit in Sekines Performance ein und wiederholte sich immer mehr. Auseinanderziehen, zusammenkleben, kneten, herüber- und wieder zurücktragen. Schuhe, Hose, Gesicht und sein halbnackter Körper, alles starrte voll Lehm und seine glänzenden Augen unter seinen schweißgetränkten Brauen sahen, wie bei einem Irren, leer in die Gegend. Statt mit seinen Augen zu sehen, wurde immer mehr die Bewegung seines Körpers zum Seh-Organ und schien sein Handeln zu steuern.(…)“[11] Sekine hat in seiner Aktion mit Lehm und Erde außergewöhnlich eindringlich gearbeitet, so wie Lee es beschrieben hat, ist er regelrecht in das Material eingetaucht und eine intime Verbindung mit ihm eingegangen.

Ein weiterer Aspekt bei der Betrachtung des Materials eröffnet sich im Begriff des „Archetypus“[12]. Diese Urbilder der Menschheit, die jenseits des Bewusstseins evident sind, sogenannte menschheitsgültige Erfahrungen, drücken sich in symbolischen Bildern aus. Erich Neumann beschreibt den „Erdarchetypus“ als unsere Ver-Erdung. Der Mensch ist mit der Erde verbunden, das ist unser Wurzelgrund aus dem wir existieren.[13] „Inire“ im Sinne der Initiation heißt ursprünglich in die Erde eingehen.[14] Die Symbolik der Erde wird demnach mit den Begriffen schwer, dunkel, unten, weiblich, passiv, diesseitig, körperlich, materiell und unbewegt beschrieben.

Die Tonplastiken, die in der Gestaltungstherapie entstehen, sind nicht aufs Brennen hin angelegt. Sie sind daher einem Prozess des Werdens, des Vorübergehenden und Vergänglichen unterworfen. Die italienische Künstlerin Anna Maria Maiolino (geb. 1942) lebt seit den 60er Jahren in Brasilien. Sie bespielte auf der dOCUMENTA 13 das gesamte Erdgeschoss des Gärtnerhauses in der Karlsaue mit ungebrannten Tonformen und brachte so Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit in ihre Arbeit mit ein, wobei sie jedoch auf den „fruchtbaren Staub“ verweist, wenn der Ton zerfällt bzw. auf seine Wiederaufbereitung durch Zugabe von Wasser, also letztendlich an Veränderung und Fortbestehen erinnert.

Maiolino_002_WText: Marlene Paul  Photo: H.E. Barfus, genannt Heinrich Paul

[1] C.G. Jung: Die transzendente Funktion. Grundwerk Band 2, Olten, 1984, S.270
[2] Karin Dannecker: Psyche und Ästhetik. Berlin, 2006, S. 190
[3] 1. Moses 1.2
[4] Dietmar Rübel: Plastizität. München 2012, S. 56 – 57
[5] Monika Wagner, Dietmar Rübel u. Sebastian Hackenschmidt (Hrg.): Lexikon des künstlerischen Materials. München, 2002 S. 227
[6] Monika Wagner, Dietmar Rübel u. Sebastian Hackenschmidt (Hrg.): Lexikon des künstlerischen Materials. München, 2002 S. 230
[7] Carl Gustav Jung: Die transzendente Funktion. Grundwerk, Band 2. Olten, 1984
[8] Vgl. DUDEN: Das Herkunftswörterbuch. Mannheim, 1963
[9] Die Künstler der Mono-ha Bewegung benutzten hauptsächlich vorgefundene, natürliche Materialien. Die Dinge sollten für sich selbst sprechen. Kunst wurde nicht primär als schöpferischer Akt gesehen, sondern als Neuanordnung von Vorgefundenem, das dadurch mit dem umgebenden Raum in Beziehung tritt.
[10] Lee Ufan (geb 1936 im damaligen japanischen Kaiserreich, heutiges Südkorea), ist ein Maler und Bildhauer, der sich in seiner minimalistischen Kunst auf asiatische und auf europäische Wurzeln bezieht. Er lebt seit 1970 in Paris und Tokio.
[11] Lee U-Fan: Über Sein und Nichtsein. Die Kunst des Nobuo Sekine – Performance. In: Katharina Schmidt (Red.): Nobuo Sekine. Skulptur 1975-1978. Kat. Ausst. Düsseldorf 1978, S. 11 u. 12.
[12] Begriff aus der analytischen Psychologie den C.G. Jung entwickelt hat.
[13] Vgl., Erich Neumann: Psyche als Ort der Gestaltung. Frankfurt 1992, S. 26. (Vortrag aus den 50 er Jahren, sog. Erasmusvorträge).
[14] Vgl., ebd., S. 30