Material Kohle

Kohle ist ein Material, mit dem Menschen schon vor tausenden von Jahren ihre Werke auf Höhlenwände malten. In der erst 1994 entdeckten Chauvet-Höhle im Tal der Ardèche, mit ihren über 1.000 altsteinzeitlichen Wandbilder und mit mehr als 470 Tierdarstellungen und Symbolen, ist eine beeindruckende Kohlezeichnung von einer Gruppe von Löwen zu sehen, die im schnellen Lauf kraftvoll dahin jagen. Ihre Köpfe sind detailliert und kunstvoll ausgearbeitet, ihre Körper hingegen erscheinen flüchtig angedeutet. Dem Betrachter springt richtig gehend Lebensenergie und animalische Vitalität entgegen. Es entsteht der Eindruck, als wären sie in kurzer Zeit, ohne zu zögern, mit schnellen, zielsicheren Strichen gezeichnet worden und der Künstler hätte just in diesem Augenblick die Kohle aus der Hand gelegt.

Werbeplakat am Eingang der Höhle

Werbeplakat am Eingang der Höhle

Ein Mythos, welcher der Erfindung der Malerei und Plastik zugrunde liegt, berichtet vom ersten Zeichenmaterial Holzkohle und dass der erste Künstler eine Frau gewesen sei. Plinius, der Ältere, ein römischer Schriftsteller, der beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 nach Chr. zu Tode kam, erzählt die Geschichte einer jungen Frau aus Korinth, die Abschied von ihrem Geliebten nehmen muss, der in die Ferne und vermutlich in den Krieg zieht. Während sie sich innig in den Armen liegen, sieht sie seinen Schatten, welcher vom Kerzenlicht an die Wand geworfen wird. Spontan nimmt sich die Frau Holzkohle aus dem Feuer und zieht seinen Schattenumriss mit einer Linie nach, um das Bild des Geliebten festzuhalten.[1] Die Holzkohle, etwas „Ausgebranntes“, wird dazu verwendet, um die Sehnsucht nach einer Liebe zu versinnbildlichen, die ewig fortbestehen soll.

Obwohl Kohle eine ähnliche Beschaffenheit wie Pastellkreide hat, weckt sie im Gegensatz zu ihr eher Assoziationen an das Grau des Alltags. Sie erinnert an Feuer, Rauch und Verbranntes.

Kohlestifte bieten sich dazu an, sowohl kräftige Kontraste, als auch feinste Nuancierungen zwischen Schwarz und Weiß aufzuspüren. Die Bandbreite im Hell-Dunkel-Bereich und die große Variationsfähigkeit, die die Kohle in der Strichführung ermöglicht, eröffnet ein breites Feld differenzierter Empfindungen und wirkt Schwarz-Weiß-Denken und Schwarz-Weiß-Erleben entgegen. Körperlicher Gestus, der sich in der Bewegung der Hand zeigt, wird sichtbarer Seelenausdruck. „Nimm die Kohle und setze die schwarzen Flecken aufs Papier, aber im Schwingen der Empfindung, … und du wirst die Bewegung spüren. Setze die Kohle nicht mit der Spitze ans Papier, laß sie mit der ganzen Länge ein Band übers Papier ziehen, erst ganz tiefschwarz, dann wird es heller und ganz weiß, schwillt wieder ins Schwarze – und du wirst die Bewegung des Hinein und Heraus, des Stark und des Schwach spüren.“[2]

Unmittelbar – im direkten Kontakt – kann mit den Fingern der locker auf dem Papier liegende Pigmentstaub verwischt werden. Dementsprechend kann mit der Polarität von Licht und Finsternis, Helligkeit und Schatten, Nacht und Tag gespielt werden, kommen noch Grautöne dazu, wird die Welt des Hell-Dunkel raumbildend. Ferner lassen sich mit dem weichen Material „modellierend“ sehr schön „weiche“ Formen, Rundungen herausarbeiten – tastend lässt sich Welt erfassen und abbilden.

Kohlestifte sind aber auch sehr gut geeignet, um mit schnellen Stichen skizzenhaft Bewegungen festzuhalten und flüchtige, gefühlshafte Augenblicke einzufangen. Wobei die Fragilität und Zerbrechlichkeit der Kohlestifte sensibilisiert zur vorsichtigen Handhabung.

Völlig anders verwendete die Schweizer Künstlerin Miriam Cahn[3] Kreide oder Kohle in ihren frühen Werken. Sie zeichnete „mit dem ganzen Körper und aus ihm heraus“[4]. „‘Ich arbeite am Boden, um alles zu vergessen, um nichts zu sehen‘, sagt Miriam Cahn. ‚Ich lehne die Distanz ab“.[5] Dabei ging sie mit der Kreide ganz unkonventionell um, indem sie mit dem Messer die Kreide abschabte, immer und immer wieder. „Hockend hält sie den Kreidelaib mit den Füssen, dann schneidet, hackt und zermalmt sie die Kreide pulverfein und kehrt sie mit den Händen zu einem Staubhügel zusammen. (…)So beginnt ein «Lesen in Staub», in den Staub hinein.“[6] „Ich streue schwarzen kreidestaub auf papier und lese mit meinen händen, wie weise frauen in teeblättern oder kaffeesatz oder wasser lasen.“[7] Sie versteht die Zeichnung, der sie einem eher flüchtigen Charakter zuschreibt, als „ein willkommenes Gegenbild zur herkömmlichen Vorstellung vom Ölbild“[8], welches sie als autonom, in sich geschlossen und vorwiegend männlich konnotiert sieht. In diesem Sinne ist ihre Art des Zeichnens eine feministische, „indem sie ihre großformatigen Zeichnungen mit der ganzen Kraft ihres Körpers auf dem Boden kriechend, manchmal nackt und mit geschlossenen Augen ausführte.“[9] Die Spuren ihrer Körperlichkeit finden sich im Kreidestaub. Der Staub verweist auf Endlichkeit und Hinfälligkeit, aber er demonstriert auch „eine unglaubliche Resistenz, eine ungeheure Macht der Formgebung durch Anspielung und ‚Tanz‘ mit dem Unförmigen“[10].
Auch in der Gestaltungstherapie finden sich Menschen, die am Boden auf dem Papier sitzend bzw. kniend Kohle oder Kreide verreiben oder sie abschaben und mit dem Staub experimentierend spielen.

Mit festen Druck und unter sichtbaren Körpereinsatz malte eine junge Frau im Stehen – konfrontativ – die nachfolgend gezeigte Form als Initialbild.

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Ihre Figur ließ mich an die Spinnen-Figuren von Louise Joséphine Bourgeois denken.

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Aufnahme 2015, Château la Coste en Provence

Die riesigen Spinnen-Skulpturen repräsentieren „trotz und wegen ihrer zarten Glieder die ersehnte bergende Funktion einer mächtigen Mutterfigur. Für Louise Joséphine Bourgeois symbolisiert die Spinne ihre Mutter, die Weberin war. Sie verkörpert für sie die webende, beschützende Mutter. Ihre Mutter sei, so hat sie einmal in ihrem Interview gesagt, so „klug, geduldig und ordentlich wie eine Spinne“ gewesen.[11]

Text: Marlene Paul  Photo: H.E. Barfus, genannt Heinrich. Paul

[1] Der Vater, ein Töpfer namens Butades, füllt den Umriss mit Ton und brennt die Form. Er gibt dem Bild Volumen und Relief, schafft aus dem Schatten eine Stellvertreter-Figur. Der zweidimensionale Schatten ist zur dreidimensionalen Skulptur geworden.
[2] Kunsthistorikerin Erika Tietze-Conrat (1883-1958). In: Rainer Wick (Hrsg.). Johannes Itten – Bildanalysen. Ravensburg, 1988, S 36.
[3] Miriam Cahn (geb. 1949) ist eine Schweizer Malerin, die in Basel und Maloja lebt und arbeitet.
[4] Ludmilla Vachtova: Porträt – Miriam, Künstlerin. NZZ Folio, 01/92.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Peter Weiermair: Vom Chaos und Ordnung der Seele. In: Ein Ausstellungsprojekt zeitgenössischer Kunst in der Psychiatrischen Klinik der Universität Mainz. S. 11.
[8] Badischer Kunstverein: Ausstellung: Miriam Cahn – Lachen bei Gefahr.
http://www.badischer-kunstverein.d/index.php?Direction=Programm&Detail=404. Stand September 2012.
[9] Ebd.
[10] Antje Kapust: Kunst im Zeichen signifikativer Überschüsse. In Antje Kapust u. Bernhard Waldenfels: Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick. München 2010, S. 19.
[11]Karin Schulze: Pervers mit einem Lächeln.
In Spiegel online Kultur, Stand November 2012.
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschafZ/0,1518,698074,00.html.
Louise Joséphine Bourgeois (1911 – 2010) war eine zeitgenössische französisch-amerikanische Bildhauerin, die sich unter anderem sehr früh mit Installationen auseinandersetzte.