Material Bleistift

Stellen Sie sich vor, sie nehmen das erste Mal an einer gestaltungstherapeutischen Sitzung teil – vielleicht würden sie, wie Andere vor Ihnen, aus ihrer Unsicherheit heraus unvermittelt zum Bleistift greifen, denn der Bleistift ist uns eine Selbstverständlichkeit. Schon als Kinder haben einige von uns seine Kappe in den Mund genommen, haben wir spontan mit ihm gekritzelt, unsere ersten Zeichenversuche unternommen und im Erwachsenenalter ist er für viele Menschen aus ihrem täglichen Leben nicht mehr weg zu denken. Als leicht handhabbares Objekt können wir ihn in den Fingern drehen, wenden, uns dabei kurz den Augenblick hingeben und als flüchtiges Ausdrucksmittel kann der Bleistift jederzeit ausradiert, überarbeitet, verschmiert, unleserlich gemacht werden – im Gegensatz dazu erhält ein Vertrag, welcher mit Tinte geschrieben wurde, die Bedeutung von Festlegung, Endgültigkeit. Außerdem hinterlässt der Bleistift keine unschönen Flecken wie Tinte.

Striche (kurze Linien) und Linien sind Spuren, die der Bleistift hinterlässt. Setzen wir die Bleistiftspitze auf das Blatt Papier, entsteht ein Punkt. Die Spur des sich bewegenden Punktes ist die Linie und jede Linie ist das Ergebnis der Bewegung unserer Hand, die wiederum den Impuls aus unserem Inneren erhält, welcher getragen wird von Stimmung, Empfindung, Kraft und Wille.
Bewegung ist Aktion und Vorbedingung zur Veränderung. Paul Klee stellt die Frage in den Raum: Was war am Anfang? „Es bewegten sich die Dinge sozusagen frei, weder in krummer noch in gerader Richtung. Sie sind urbeweglich zu denken, sie gehen wohin sie gehen, um zu gehen, ohne Ziel, ohne Willen, ohne Gehorsam, nur als Selbstverständlichkeit sich zu bewegen, als urbeweglicher Zustand.”[1]

Vielleicht beginnen sie jetzt entspannt vor sich hin zu kritzeln und geben sich ihren auftauchenden Impulsen hin. Spüren dabei die Ruhe, welche die Gerade ausstrahlt, die Unruhe des Zickzacks, die sanfte Bewegtheit der Gebogenen, den unendlichen Fluss des Kreises, das rastlose Auf- und Abschwingen der Schleifen oder Schlangenlinien. Der Bleistift überträgt direkt und sofort jede unserer Gefühlsregung aufs Papier. Der Stift wird zur Verlängerung der Hand und damit des Körpers. „Auf diese Weise findet eine tatsächliche Überschneidung von gleichzeitigem ‚Berühren und Berührt-Werden‘ statt. Was neu entsteht geschieht nicht nur auf einer Wahrnehmungs-Ebene und in einer Richtung ‚es‘ passiert umgekehrt der Hand der Zeichnerin (…).“[2] Der Stift kann sich scharf, unruhig, ängstlich, hektisch, nervös, energisch, kräftig, zart, neugierig tastend und auf weitere Art bewegen. Mit ihm kann etwas eingekreist und erfasst werden. Die 14 jährige Gabriele Münter zeichnete immer nur Gesichter. „Die Linie, mit der sie ein Gesicht erfaßte, war immer zugleich Angriff. (…) Das schüchterne Kind gewann seine Überlegenheit gegenüber dem Gezeichneten. Er war durchschaut, das Urteil gefällt: Zeichnen war zugleich Sieg und Aneignung.“[3] Indem die junge Gabriele Münter oder Kinder sich die Gegenstände der Außenwelt durch Zeichnen vergegenwärtigen, bewältigen sie innere Erlebnisse.

In der therapeutischen Einzelgestaltung begegne ich einer jungen todkranken Frau für welche die Zeichnung zu ihrem Mittel der Kommunikation wird. Nach ihrer Diagnose „Krebs“ ändert sich von heute auf morgen alles für sie. Plötzlich existiert eine lebensbedrohliche Erkrankung, die alles in Frage stellt. Der eigene Tod tritt aus einer noch weit entfernten Zukunft, wird gegenwärtig und konfrontiert sie mit dem, was alle Menschen am meisten fürchten: ihre Auflösung. Sie findet für ihren Schrecken keine Worte, wird „sprachlos“. Durch die Zeichnung kann sie jedoch ihre Sprachlosigkeit überbrücken und „ES“ ins Bild setzen und indem ich, die Kunsttherapeutin, die Bildelemente benenne, wird der jungen Frau eine Brücke gebaut, um ihre eigene Sprache wiederzufinden und die Fassungslosigkeit in Worte zu fassen.

Verstehe ich die Sprachlosigkeit vor Schreck sinnbildlich als ein Fallen in die Dunkelheit der Nacht, fällt mir dazu eine Episode mit einem kleinen Jungen ein, die Freud in seinem Werk „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie beschreibt. Ein dreijähriger Junge, der Angst vor der Dunkelheit hat, bittet seine Tante mit ihm zu sprechen. Worauf die Tante ihn verwundert fragt, was ihm denn das Reden in der Dunkelheit bringe. „Wenn jemand spricht, wird es hell“[4], antwortet ihr der Junge.
Dadurch löst sich auch die Einsamkeit, alles alleine tragen zu müssen. Außerdem bietet das Bild die Möglichkeit das Leid im Gestalten „zu greifen“, damit ein Stück weit zu „begreifen“ und sich im gemeinsamen Anschauen davon wieder zu distanzieren.

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Bleistiftzeichnung 42 x 29,6 cm

Auf ihrem Initialbild zieht sie mit dem Bleistift eine Linie, welche bestimmt wird durch die Stärke des ausgeübten, subtil vibrierenden Drucks und geht tastend weiter. Ihre unverschleierte Bewegungsspur wird zu einer rudimentären Körperform, so empfindsam, so leicht, so vergänglich wie ein Atemhauch. Für Martin Seidemann ist „Zeichnen die unmittelbarste bildnerische Äußerung, eine sehr persönliche, intime Form (…). Zeichnung ist unmittelbarer innerer Ausdruck.“[5]

Sie zeigt uns ihren kopflosen Körper, der auf dem Operationstisch liegt. Sie scheint „vor Sorge kopflos zu sein“. Die den Körper umschließende Form ähnelt einer Kopfform und erweckt die Assoziation eines Blickes von oben auf ihren am Operationstisch liegenden Körper. Im rechten oberen Bildteil meine ich ihre zeichnende Hand zu sehen, so als ob die junge Frau sich beim Zeichnen selbst zusieht. Es ist als ob sie von ihren eigenen Erfahrungen, Körper und Verstand abgeschnitten ist. Depersonalisierungs-Phänomene können bei psychotischen Strukturen „als Signaleffekt verstanden werden, der eine tatsächliche oder befürchtete Bedrohung der Selbstkonstanz oder eine Fragmentierung des Selbst anzeigen kann. Die Depersonalisation stellt einen partiellen Rückzug des Ichs dar; durch die veränderte Wahrnehmung von Selbst und Realität ist es möglich, den Kontakt zur Außenwelt auch dann noch aufrechtzuerhalten, wenn die Massivität der Affekte die Selbstkohärenz in Frage stellt.“[6]

Ihre Linie formt Raum, grenzt ab und „umreißt“. Bruchstückhaftes und Zeichnung gehören gewissermaßen zusammen. Unsere Phantasie und Empathie ist gefordert, um aus dem Angedeuteten der Umrisslinien und wenigen Strichen Gegenstände, Körperhaftes, die Szene, welche sich abspielt, zusammen zu schauen, um ihre Not, ihr Leid wenigstens etwas zu erahnen, zu erspüren.

Der Operationsraum wird durch die Gitter zum Gefängnis. Sie kann nicht entrinnen. Der Raum, ebenso wie ihr Körper verliert seine Funktion als schützende Hülle. Er wird „eng“, wird zur Bedrohung. Assoziiere ich zu schützender Hülle „Haus. Ein Ort auf Zeit.“[7]„Haus und Mutterleib sind metaphorische Bilder für eine existentielle Sicherheit, von der man jedoch unbewusst gewiss ist, dass sie im Prinzip immer potentiell in katastrophale Vernichtung oder existentielle Verlassenheit umschlagen kann.“[8] Otto Rank beschreibt als erstes Haus des Menschen, zitiert nach Hirsch, den Grabbau, der sich später im Hausbau und im Tempelbau zu Architektur weiter entwickelte. „Dieses erste Haus, der Grabbau, wird so von selbst zu einer Hülle der Seele, zu einem menschlichen Körper, in dem die Totenseele nach dem Verlassen der Erde ‚haust‘“.[9] Auch der Körper kann, wenn wir uns seiner kaum noch bedienen können, zum Sarg werden.

Die Linien, welche ihre Beine und Füße umreißen, sind unterbrochen, wirken, wie wenn sie kurz inne gehalten und Luft geholt habe. Vielleicht hat sie sich in diesem Moment gefragt, ob sie jemals wieder „auf ihren eigenen Beinen“ ihr Leben meistern könne.

Der Duktus ist auch bei einer Zeichnung ein sichtbar werdender Teil des Unbewussten, genauer gesagt, ist es hier sogar weit stärker der Fall, da das intellektuell kontrollierende Moment noch weiter zurücktritt.“[10] „Jede Zeichnung, könnte man sagen, ist wie eine Summe von Fingerabdrücken, unverfälschbare und lesbare Äußerung des Individuums (…)“[11]

Deutlich hält sie die Eingriffe in ihre körperlichen Funktionen fest, die ja häufig mit Schmerzen und anderen unangenehmen Nebenwirkungen einhergehen, und welche die Integrität des Körpers und des Körpererlebens beeinträchtigen. Im genauen zeichnerischen Erfassen nähert sie sich dem eigenen Körper wieder an, der vielleicht als fremd und zum Teil unheimlich und bedrohlich erlebt wurde. Und es kann den Versuch darstellen, unkontrollierbarem Körpergeschehen entgegen zu wirken. Ihre Arme, ihre Handlungsfähigkeit verliert sich im Raum oder wird von ihm vereinnahmt.

Mit dem Bleistift „greift“ sie das Geschehen, hat es sozusagen im Griff, bannt es und im besten Fall „begreift“ sie es. Im Zeichnen wird sie wieder zur Handelnden in ihrer Welt.

Linien entstehen nicht nur aus der Bewegung, sondern sie bewegen uns auch innerlich und äußerlich, bewusst und unbewusst. Es finden sich Linien, die uns ansprechen, uns etwas mitteilen oder welche, die uns weiter nicht interessieren. Jede Linie, egal wie wir sie erfahren, sei es als Spur, als Grenze, als Raum- oder Formbildend, ist stets eine Aktion, ein Geschehen. Sie nimmt uns mit, lenkt, zieht oder hemmt uns – kann auf uns ermüdend oder aktivierend einwirken. Linie ist Energie, Bewegung, Ereignis, Begehren, Impuls, Geste und noch mehr. Jede bewegte Linie können wir wiederum nur über Bewegung wahrnehmen, indem wir sie mit unserem Auge nachvollziehen und die Wahrnehmung dieser äußeren Bewegung spiegelt sich dann in unserem Inneren wieder.

Jede Linie hat einen Anfang und ein Ende, dazwischen existieren verschiedene Aktivitäten und unterschiedliche Dynamiken. Wenn sie achtsam ihre Linie ziehen, werden sie erleben, dass die Linie aus der Ruhe erwächst und wieder in der Ruhe endet.

Text: Marlene Paul

[1] Paul Klee: Das bildnerische Denken. Basel/Stuttgart, 1956. S. 19.
[2] Maria Bussmann: Zeichnungen zum Sichtbaren und Unsichtbaren. In Antje Kapust, Bernhard Waldenfels: Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick. München 2010, S. 244.
[3]
Gisela Kleine: Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Frankfurt, 1991, S.41.
[4] Sigmund Freud: Sexualleben. Band V. Frankfurt am Main, 1972, S. 128.
[5] Martin Seidemann: Zeichnen oder die Ehrlichkeit der Kunst. In K.H. Menzen, P.Rech, M. Wendlandt-Baumeister (Hrgs.): Kunst & Therapie, Zeitschrift für bildnerisches Gestalten, Köln, 1/2004.
[6]Wolfgang Wöller: Depersonalisierung. In Wolfgang Mertens, Bruno Waldvogel (Hrsg.) Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart, Berlin, Köln, 2002, S.126.
[7] Mathias Hirsch: Das Haus. ‚Gießen, 2006, S. 13.
[8] ebd.,S.33.
[9] ebd.,S.33.
[10] Walter Koschatzky: Die Kunst der Zeichnung. München, 1985, S. 20.
[11] Koschatzky, S. 21.